Gemeinsame Erklärung zu Libyen

Der Konflikt und die Covid-19-Pandemie stellen eine erhebliche Bedrohung für das Leben in Libyen dar. Die Gesundheit und Sicherheit der gesamten libyschen Bevölkerung sind gefährdet. 
 
Seit Beginn des Konflikts vor neun Jahren wurden fast 400 000 Libyer vertrieben - rund die Hälfte von ihnen innerhalb des letzten Jahres, seit dem Angriff auf die Hauptstadt Tripolis. 
 
Trotz wiederholter Aufrufe zu einem humanitären Waffenstillstand, unter anderem durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen, dauern die Feindseligkeiten unvermindert an und behindern den Zugang und die Lieferung kritischer humanitärer Hilfsgüter. Die humanitären Helfer stehen jeden Tag vor grossen Herausforderungen, um ihre Mission fortzusetzen. Im März 2020 meldeten die humanitären Partner insgesamt 851 Zugangsbeschränkungen für die Bewegung von humanitärem Personal und humanitären Gütern innerhalb und nach Libyen. 
 
Die Situation für viele Migranten und Flüchtlinge ist besonders alarmierend. Seit Anfang dieses Jahres wurden mehr als 3 200 Menschen auf See abgefangen und nach Libyen zurückgeschickt. Viele landen in einem der elf offiziellen Gefangenenlager. Andere werden in Einrichtungen oder inoffizielle Gefangenenlager gebracht, zu denen die humanitäre Gemeinschaft keinen Zugang hat. Die Vereinten Nationen haben wiederholt bekräftigt, dass Libyen kein sicherer Hafen ist und dass auf See gerettete Personen nicht in willkürliche Haftanstalten zurückgeschickt werden sollten. 

Frauen und Kinder tragen nach wie vor die Hauptlast des anhaltenden bewaffneten Konflikts in Libyen: Im vergangenen Jahr haben die Vereinten Nationen 113 Fälle schwerwiegender Verletzungen überprüft, darunter Tötung und Verstümmelung von Kindern, Angriffe auf Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen wurden mit Granaten beschossen, was das fragile libysche Gesundheitssystem weiter stört. Seit Anfang des Jahres wurden bei mindestens 15 Angriffen Gesundheitseinrichtungen und Krankenwagen beschädigt und Mitarbeiter des Gesundheitswesens verletzt. Diese Angriffe sind eine eklatante Verletzung des humanitären Völkerrechts und während der Covid-19-Pandemie noch ungeheuerlicher.
 
Der Ausbruch des Coronavirus in Libyen stellt eine weitere Belastung für das ohnehin schon überlastete Gesundheitssystem dar und bedroht die am stärksten gefährdeten Menschen im Land zusätzlich.  Bis zum 13. Mai gab es 64 bestätigte Fälle von Covid-19, darunter drei Todesfälle, in verschiedenen Teilen des Landes. Dies zeigt, dass eine Übertragung auf lokaler/kommunaler Ebene stattfindet. Das Risiko einer weiteren Eskalation des Ausbruchs ist sehr hoch.
 
Die Ernährungssicherheit, die bereits eine Herausforderung darstellt, wird durch die Ausbreitung des Coronavirus und dessen sozioökonomischen Auswirkungen auf libysche Familien gefährdet. Neueste Marktbewertungen zeigen, dass die meisten Städte mit einem Mangel an Grundnahrungsmitteln in Verbindung mit einem Anstieg der Preise konfrontiert sind. Die begrenzte Verfügbarkeit von Gütern auf dem Markt und höhere Preise wirken sich ebenso wie Unterbrechungen in der Versorgungskette auf die Pläne aus. Damit sich diese Gesundheitskrise nicht zu einer Nahrungsmittelkrise ausweitet, ist eine kontinuierliche Unterstützung der Ernährungssicherheit innerhalb des Landes unerlässlich. 
 
Wir fordern alle Konfliktparteien dringend auf, lebenswichtige Wasserversorgungseinrichtungen zu schützen. Wir sind zutiefst beunruhigt, dass Wasserversorgungseinrichtungen absichtlich ins Visier genommen oder unterschiedslos angegriffen wurden. Dies betrifft Tausende von Frauen und Kindern und behindert die Bemühungen um die Durchführung grundlegender Massnahmen zur Virusprävention, wie z.B. das Händewaschen.
 
Wir unterstützen den Aufruf des Generalsekretärs zu einem weltweiten Waffenstillstand, damit Leben gerettet werden und sich die libyschen Behörden und ihre Partner auf die Bekämpfung des Coronavirus konzentrieren können. Die internationale Gemeinschaft darf nicht die Augen vor dem Konflikt in Libyen und seinen katastrophalen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung verschliessen. 
 
Trotz enormer Herausforderungen haben die UNO und unsere humanitären Partner weiterhin die am stärksten gefährdeten Menschen in Libyen erreicht. Es werden dringend Mittel benötigt, unter anderem für lebenswichtige Hilfsdienste wie den humanitären Flugdienst der Vereinten Nationen, wenn wir weiterhin den Nothilfebedarf decken wollen. Wir freuen uns auf die finanzielle Unterstützung für den Humanitären Antwortplan für Libyen, wie von der Regierung von National Accord zugesagt. Auch Spender haben uns unterstützt. Wir bitten sie, weiterhin ihre Grosszügigkeit unter Beweis zu stellen und dem libyschen Volk in seinem Streben nach Frieden und in diesem Augenblick der grossen Not beizustehen.

Unterzeichner:
 
Mark Lowcock, UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten 
Filippo Grandi, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge 
Henrietta Fore, Exekutivdirektorin von UNICEF 
Dr. Natalia Kanem, Exekutivdirektorin des UN-Bevölkerungsfonds 
David Beasley, Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms 
Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation 
António Vitorino, Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration