Rumänien Tagebuch: Ein Lichtblick der Sicherheit und Hoffnung für geflüchtete Kinder aus der Ukraine

Saskia Kobelt, Spezialistin für internationale Programme von UNICEF Schweiz und Liechtenstein, reflektiert über ihren jüngsten Feldbesuch in Rumänien, wo sie mehrere von UNICEF unterstützte Zentren für Kinder und Jugendliche besucht hat. 

Mutter hält Kinder im Arm.

Tag 1: 15. Februar 2023

Der Tag in Bukarest beginnt voller Enthusiasmus und Anspannung. In welchem Zustand werden wir geflüchtete Kinder aus der Ukraine in Rumänien antreffen? Wie geht es den unermüdlich arbeitenden Helfenden? Wie sieht UNICEFS Hilfe vor Ort konkret aus? 

Mit dem UNICEF Van fährt mich unser Fahrer Viorel frühmorgens zum UN House. Vor Ort nimmt die Begrüssung durch das UNICEF Kollegium die Anspannung. Das inhaltliche Briefing der Fachleute zur Situation im Land, den Herausforderungen, Plänen, strategischen Ansätzen, Erfolgen und Ausblicken bereitet mich angemessen auf die kommenden Tage vor.

UNICEF ist seit Jahrzehnten in Rumänien, um die Rechte aller Kinder im Land zu schützen und reagiert nun gemeinsam mit der rumänischen Regierung, den nationalen und lokalen Behörden, dem UNHCR sowie anderen UN-Organisationen auf die ukrainische Flüchtlingskrise. 

Trotz vieler positiver Entwicklungen – besonders seit dem Beitritt zur Europäischen Union -steht Rumänien jedoch weiterhin vor zahlreichen demografischen und sozialen Herausforderungen. Die Gesamtbevölkerung nimmt schnell ab: nach Syrien, zählt Rumänien zu dem Land mit der höchsten Auswanderungsquote. Hinzu kommt, dass jede zweite Person in den ländlichen Regionen sehr stark von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht ist. 

Obwohl Rumänien hauptsächlich ein Transitland ist, hat der Krieg in der Ukraine dazu geführt, dass die Zahl der ins Land kommenden Flüchtigen – insgesamt sind es bis heute 468 765 Menschen – stark zugenommen hat. Dies stellt eine zusätzliche Belastung für die Betreuungsdienste dar, die lediglich auf die besonderen Bedürfnisse der rumänischen Bevölkerung zugeschnitten sind. 

Während man sich in den ersten Monaten dem Kontext geschuldet auf die Nothilfe konzentrieren musste, wird beim Besuch in Rumänien sichtbar, dass sich die akute Krise nun verändert. Und mit ihr verändern sich auch die Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung. In diesem Triple-Nexus zwischen kurzzeitiger humanitärer Hilfe, mittel- und langfristiger Entwicklungshilfe und Friedensförderung müssen Programme umstrukturiert, neu gewichtet und Systeme zur langfristigen Entwicklung aufgebaut werden. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass alle Kinder und Jugendliche in Rumänien einen gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen im Bereich Gesundheit, Bildung oder sozialer Sicherheit erhalten.

Die Kolleginnen und Kollegen aus dem UNICEF Rumänien-Büro erklären mir, dass man die aktuelle Situation auch als Chance sieht. Rumänien rückt nach Jahren im Hintergrund endlich wieder in den Fokus: Durch finanzielle Subventionen werden viele Unterstützungsprogramme für Kinder in Rumänien wieder realisierbar.

Station 1: Spielen ist die beste Therapie 
Der «Play and Learning Hub» wird von UNICEFs Partnerorganisation «Angel Appeal Foundation» umgesetzt. Die Mitarbeitenden des Hubs haben sich bemüht, die zwei kleinen Räume so zu gestalten, dass sich die Kinder besonders wohl fühlen, und es ist ihnen gelungen: Die Atmosphäre ist herzlich und einladend. Auf dem Boden verteilt liegen zahlreiche Spielsachen wie Legoklötze, Bücher, Puppen. An den Wandregalen stapeln sind Plüschtiere. Kindern, die aus der Ukraine geflohen sind, wird hier Schutz geboten. Doch mehr als das: Sie können endlich wieder Kind sein, Spielen und für einen Moment die Schrecken des Krieges vergessen. Die Möglichkeit, mit den Kindern zu spielen, berührt mich. Fern vom Büroalltag sind es diese Kinder, die mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Sie haben in ihrem kurzen Leben bereits so viele schreckliche Erfahrungen gemacht, die ihr ganzes Leben prägen werden. Auf einmal wurden sie zu Geflüchteten, wurden entwurzelt und aus ihrer Heimat vertrieben.

 

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Doch auch wenn die Kinder im «Play and Learning Hub» für einen kurzen Augenblick spielen, lachen und ihre Ängste vergessen - der Krieg in der Ukraine geht weiter. Trotz ihrer anfänglichen Hoffnung auf ein kurzes Exil in den Nachbarländern, ist es unwahrscheinlich, dass die derzeit 35 640 ukrainischen Flüchtlingskinder in Rumänien in ihre Heimat zurückkehren können, bevor - zumindest - der Krieg vorbei ist. 

Station 2: Schutz und Bildung für Kinder in Not
Unsere nächste Station ist ein von UNICEF in Zusammenarbeit mit der «ANAID Foundation» errichteter «Support Hub» für Kinder. Im «Pipera Unterstützungszentrum» wird ukrainischen Kindern eine freundliche Lernumgebung geboten. Mit Hilfe der angestellten Lehrkräfte besuchen sie Kurse nach dem ukrainischen Schullehrplan und nehmen anschliessend am Rumänisch- und Englischunterricht sowie an allerlei praktischen Aktivitäten teil. Währenddessen können ihre Mütter ihrer Arbeit nachgehen. Ziel dieses Projektes ist es, den Kindern Zugang zu Bildung in einem sicheren Umfeld zu ermöglichen und die Mütter zu ermutigen, sich eine Arbeit zu suchen, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

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Auf einmal wird das grosse Leid der Kinder direkt spür- und sichtbar. Ein siebenjähriger Junge, schüchtern ist er, schaut von seinem Basteltisch hoch. Zuvor im Unterricht, sass er erschöpft im Stuhl neben anderen, viel älteren Kindern, und hat versucht, dem Unterricht zu folgen. Seine Gedanken waren woanders. Nun sitzt er ganz vertieft am Basteltisch und formt mit seinen kleinen Kinderhänden Gewehre und Panzer. Die Erlebnisse der letzten Monate haben sich in sein Gedächtnis geprägt.

    Wenn Kinder mit komplexen emotionalen Problemen zu kämpfen haben, zeigt sich das oft in ihrem Spieleverhalten. Dabei können sie Gefühle wie Schmerz, Angst oder Verlust verarbeiten. Es gibt ihnen die Möglichkeit, Dinge auszudrücken, mit denen sie zu kämpfen haben und die sie noch nicht in Worte fassen können. 

    In den ersten fünf Lebensjahren entwickelt sich das junge Gehirn am schnellsten - Säuglinge und Kinder lernen durch positive spielerische Erfahrungen, sich mit ihrer Umgebung zu verbinden und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Es fördert das kognitive, körperliche und sozial-emotionale Wachstum von Kindern, sowie ihre Kommunikationsfähigkeiten und Empathie.

    Besonders für Flüchtlingskinder kann das spielerische Lernen eine positive Wirkung haben, da sie mit Erwachsenen interagieren. Eben diese Zuwendung und das Miteinander beim Spielen ist bei der Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen von Kriegsflüchtlingen besonders wichtig.

    Station 3: RomExpo – Bukarests zentrale Anlaufstelle für Geflüchtete
    UNICEF arbeitet mit unzähligen Partnerorganisationen und der Regierung zusammen, um in ganz Rumänien «Blue Dot Safe Spaces», Schutz- und Unterstützungszentren und andere Anlaufstellen für Kinder und Frauen zu errichten. Wir besuchen als letzte Station des Tages das grössten Messegelände Rumäniens, die «RomExpo». Vor Ort konnten mittlerweile 230 000 Kinder und Frauen untergebracht werden. Zu dieser zentralen Anlaufstelle gehören:

    • ein Mutter-Kind-Spielplatz
    • Stillberatung
    • psychosoziale Unterstützung
    • Rechtsberatung
    • ein Sozialmarkt
    • die Verteilung von Lebensmittelrationen, Kleidung und Sozialgutscheinen
    • ein Spielraum für Kinder, in dem Kinder betreut werden, während ihre Begleitpersonen Behördenwegen oder Ähnlichem nachgehen 
      Eine lange Warteschlange.

      Weiterreise in den Norden
      Die Sonne beginnt sich bereits hinter den Nothilfecontainern auf dem Messegelände zu verstecken, als wir die dreieinhalbstündige Autofahrt nach Brasov in der Region Siebenbürgen in Angriff nehmen. Im Auto wird es still, wir alle sind erschöpft. Die Gedanken sind bei den Kindern und Müttern, die diesen langen Weg von der Ukraine nach Rumänien voller Angst und Sorge auf sich genommen haben. Mit der Hoffnung auf Sicherheit und Schutz. Die Weiten der Rumänischen Felder ziehen an uns vorbei. Der Krieg in der Ukraine ist auch in Rumänien hautnah spürbar.

      16. Februar 2023: Tag 2

      Geschlafen habe ich nicht viel. Zu viele Gedanken kreisten um die Kinder. Ihre Schicksalsschläge bewegen mich sehr. 

      Station 1: Blue Dot Zentrum Cattia 
      Die erste Station des Tages ist das «Blue Dot Zentrum Cattia». Ein Gemeinschaftszentrum, in dem Familien integrierte und grundlegende Dienstleistungen erhalten. Kindern wird der Zugang zu Bildung ermöglicht und Geflüchtete können psychosoziale Unterstützung und Rechtsberatungen wahrnehmen.

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      Zwei Mädchen bauen einen Tum aus Legosteinen.
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      Was das Zentrum in Cattia so besonders macht: Es fungiert auch als vorübergehendes oder längerfristige Zuhause für Geflüchtete, welches neben Übernachtungsmöglichkeiten auch ein Café, eine Waschstube, eine Kleiderbörse und ein Nähstudio beherbergt. In kürzester Zeit und mit wenig finanziellen Mitteln konnte das Zentrum durch zahlreiche Freiwillige der Stadt in Zusammenarbeit mit Geflüchteten aufgebaut werden. Die zahlreichen Aktivitäten, die hier täglich angeboten werden, die unerschütterliche Hingabe, die Kreativität und der Pragmatismus in der Umsetzung, sind wahrlich beeindruckend. 

      Ich treffe vorwiegend Frauen und Kinder an. Die Mehrheit der Männer musste aufgrund der Wehrpflicht in der Ukraine zurückbleiben. Und dennoch: trotz der Unsicherheit, trotz der traumatischen Erfahrung und trotz der Angst um ihre Zukunft – die positive und motivierte Stimmung der Menschen ist deutlich spürbar. Die Menschen vor Ort packen mit an, um das «Blue Dot Zentrum Cattia» zu einem ganz besonderen Ort zu machen. 

      Station 2: Kindergarten für alle
      Die nächste Station ist ein von UNICEF unterstützter integrativen Kindergarten, in dem ungefähr 250 ukrainische Kleinkinder mit besonderen Bedürfnissen betreut werden. Die Hälfte der Kinder leidet an Lebensmittelallergien, zehn Prozent der Kinder benötigen eine an ihre Bedürfnisse angepasste Betreuung.

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      Während unseres Besuches hat die wichtige Mittagsruhe der Kinder angefangen. Wir nutzen die Zeit und tauschen uns mit dem Betreuungspersonal vor Ort aus. Uns wird erklärt, dass eine gute Vorschulbildung eine wichtige Grundlage für den weiteren Lebensweg eines Kindes bildet. Trotz der erwiesenen und lebenslangen Vorteile, nehmen zehntausende Kinder – überwiegend aus einkommensschwachen rumänischen Familien – selten an frühkindlichen Bildungsprogrammen teil. Bei jenen Kindern, die Zugang zu den Bildungsangeboten haben, mindert schlecht ausgebildetes Erziehungspersonal, überfüllte Klassenräume und ungeeignete Lehrpläne die Qualität ihrer Ausbildung. 

      UNICEF arbeitet deshalb mit dem Betreuungs- und Lehrpersonal vor Ort zusammen, um entsprechende Kapazitäten aufzubauen und den Lehrplan dahingehend zu erweitern, dass den Kindern eine integrative Lernerfahrung ermöglicht wird. Gleichzeitig werden die Lehrkräfte geschult, um spezifische berufliche Kompetenzen für ihre Arbeit mit kleinen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu entwickeln. Des Weiteren werden Lehrpläne und Aktivitäten entwickelt und diversifiziert, um eine integrative und inklusive frühkindliche Erziehung in Rumänien nachhaltig zu stärken. 

      Letzte Station: Besuch in UNICEFs integrierten Gemeindezentren
      Rumänien ist die Heimat von 3,7 Millionen Kindern. Aber nicht jedes Kind fühlt sich hier zu Hause. Viele von ihnen haben keinen ausreichenden Zugang zu grundlegenden Ressourcen: es fehlt an Nahrung, fliessendem Wasser, Gesundheitsdiensten und Energieversorgung. Über 40 Prozent der Kinder leben in Familien, die von Armut, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Körperlicher und emotionaler Missbrauch sowie Gewalt, prägen ihren Alltag. Vor allem Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind in Rumänien stark gefährdet.

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      Um den Teufelskreis zu durchbrechen, muss den Kindern eine bessere Perspektive geboten werden. Es bedarf an längerfristigen Lösungen, um die Betroffenen zu unterstützen. Aus diesem Grund steht für UNICEF die Zugänglichkeit und Qualität integrierter grundlegender und spezialisierter Dienstleistungen - einschliesslich Gesundheit, Bildung und Sozialfürsorge – an oberster Stelle. Gemeinsam mit Partnerorganisationen konnten integrierte Gemeinschaftszentren eingerichtet werden, in welchen spezialisierte Dienstleistungen von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen gratis angeboten werden. In den Zentren arbeiten Sozialberatende, Gemeindeschwestern, Bildungs- und medizinisches Personal sowie Fachkundige in den Bereichen Sprach- und Physiotherapie und Psychologie. 

      Im Gemeindezentrum traf ich auf eine alleinerziehende Mutter und ihren körperlich und geistig behinderten Sohn, deren Schicksal mir besonders in Erinnerung geblieben ist: der Junge stürzte eines Tages schwer, seiner Mutter fehlten jedoch finanzielle Mittel für seine angemessene medizinische Betreuung. Dank UNICEF konnte er mit Hilfe von täglichen Physiotherapieeinheiten behandelt werden. Nicht nur die Mutter, sondern auch jene UNICEF Mitarbeiterin, die den Weg des Jungen begleitet, sind beim Erzählen den Tränen nahe. Die tagtäglichen Herausforderungen der Hilfesuchenden hinterlassen bei allen Beteiligten ihre Spuren.

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      Was ich mitnehme
      Miteinander reden, einander helfen, für einander da sein, gemeinsam spielen, sich gegenseitig Schutz bieten, gemeinsam lachen, sich unterstützen, einander zuhören. Es sind Werte wie diese, kleine Gesten, die uns – und allen voran den Kindern – in solch turbulenten Zeiten, Zuversicht, Hoffnung und Kraft geben. Werte, die immer mehr in Vergessenheit geraten. Doch die Kraft die in ihnen steckt - ich durfte es in Rumänien erleben – kann Berge versetzen.