Leere Schulbänke im Südsudan – Wenn Mädchen nicht zur Schule gehen

Saskia Kobelt
Saskia Kobelt

Bildung ist eine der wirksamsten Lösungen im Kampf gegen Armut. Investitionen in die Bildung von Mädchen tragen zu stabileren, widerstandsfähigeren Gesellschaften bei. Doch weltweit gingen bereits vor der Pandemie 132 Millionen Mädchen nicht zur Schule – wegen Corona werden diese Zahlen noch steigen. Im jungen ostafrikanischen Binnenstaat Südsudan ist die Lage besonders prekär. 

Mädchenbildung ist die effizienteste Strategie, um den Kreislauf der generationenübergreifenden Armut zu durchbrechen und Familien und Gemeinschaften aus der Marginalisierung zu befreien. Mädchen, die eine Ausbildung erhalten, werden seltener jung verheiratet und führen eher ein gesundes, produktives Leben. 

Die gute Nachricht lautet, dass die Weltgemeinschaft in den vergangenen 20 Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt hat: Heute besuchen weltweit zwei Drittel der Mädchen eine weiterführende Schule, verglichen mit nur der Hälfte der Mädchen 1998. Die schlechte Nachricht: Es bleibt noch viel zu tun.

Noch vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie blieb weltweit 132 Millionen Mädchen der Zugang zu Schulbildung verwehrt. Schulschliessungen und die Unterbrechung wichtiger Gesundheitsdienste setzen Mädchen nun einem erhöhten Risiko aus, die Schule frühzeitig abzubrechen. So sind sie aufgrund des fehlenden Schutzes und der Zunahme der Armut der Gefahr ausgesetzt Frühehen eingehen zu müssen, ungewollt Schwanger zu werden, oder müssen ihre ganze Zeit für die Pflege erkrankter Familienmitglieder aufwenden. Die UNESCO geht davon aus, dass weltweit mindestens 11 Millionen zusätzliche Mädchen nach der Pandemie nicht mehr in die Schule zurückkehren werden.

Warum sind Mädchen nicht in der Schule?

Die Gründe dafür sind vielfältig. Hindernisse für die Bildung von Mädchen - wie Armut, Kinderheirat und geschlechtsspezifische Gewalt - variieren von Land zu Land und von Gemeinde zu Gemeinde. Arme Familien bevorzugen oft Jungen, wenn sie in Bildung investieren.

Mancherorts entsprechen die Schulen nicht den Sicherheits-, Hygiene- und Sanitärbedürfnissen von Mädchen. In anderen sind die Unterrichtspraktiken nicht geschlechtergerecht und führen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden beim Lernen und der Entwicklung von Fähigkeiten.

Zikra Gibriel Alfred

«Wir müssen befähigt werden, unsere Träume und Hoffnungen zu verwirklichen.»

Zikra Gibriel Alfred, 17 Jahre alt – Südsudan

Südsudan: Nur eins von zehn Mädchen mit einem Grundschulabschluss

Im Südsudan ist die Lage besonders prekär: Im jungen ostafrikanischen Binnenstaat gehen verhältnismässig weniger Mädchen zur Schule als in jedem anderen Land der Welt. Auf 100 Jungen sind nur 75 Mädchen in der Grundschule eingeschrieben. Wovon weniger als ein Prozent diese abschliesst. Der weibliche Analphabetismus ist der höchste der Welt. Doch ohne eine Ausbildung bleibt diesen jungen Frauen eine bessere Zukunft verwehrt.

Die Folgen des Bürgerkrieges im Südsudan in Kombination mit den kumulativen Auswirkungen jahrelanger Konflikte, politischer Instabilität und extremer Armut haben frühere Fortschritte beim Zugang zu Bildung für Mädchen zunichte gemacht. Die Bevölkerung des Südsudan gehört zu den jüngsten der Welt - was eine zusätzliche Belastung für das ohnehin schon überlastete Bildungssystem darstellt, das durch schwache und unterfinanzierte nationale Systeme gekennzeichnet ist.  63 Prozent des Lehrpersonals ist nicht qualifiziert. Speziell ausgebildete Lehrerinnen, die als Vorbilder und Mentorinnen für Mädchen fungieren können, sind sehr rar.

Die Präsenzzeit in der Schule gehört im Südsudan zu den niedrigsten der Welt – im Durchschnitt kann ein Kind mit insgesamt fünf Jahren Schulbildung rechnen. Mädchen sind davon besonders betroffen. Ein Hauptgrund hierfür liegt in der oft unzureichenden und unsicheren Lernumgebung. Weil es in vielen Schulen an angemessenen sanitären Einrichtungen fehlt, sind Mädchen während ihrer Menstruation gezwungen zu Hause zu bleiben und erst wieder zur Schule zu gehen, wenn ihre Periode vorbei ist. Aber auch überfüllte Klassenzimmer mit begrenzten oder fehlenden Sitzmöglichkeiten stellen ein Hindernis dar. Des Weiteren wirken humanitäre Konflikte und Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder der Ausbruch der Covid-19-Pandemie destabilisierend auf das ganze Schulsystem.
 

© UNICEF/UN0428060/Ryeng
Keziah Daniel (14) und Elizah Amama (16) (v.l.n.r.) stehen vor der neu sanierten Latrine der AIC Nursery and Primary School in Torit Südsudan.

Eine nationale Bildungskrise – eine Katastrophe für Mädchen

Mit den Covid-19-bedingten Schulschliessungen und mehr Zeit die zu Hause verbracht wird, hat sich die Anzahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen können, von 2.2 Millionen auf 2.8 Millionen erhöht.

©UNICEF/CO Südsudan/ Februar 2021

«Wenn die Mädchen nicht beschäftigt und in der Schule engagiert sind, besteht die Gefahr, dass einige Eltern, die den Wert der Bildung nicht kennen, die Mädchen in Zwangsheiraten verwickeln.»

Giir Thiik. Der 23-Jährige ist Primarstufenlehrer an der Venus Star Academy, wo er Naturwissenschaften und Englisch unterrichtet.

Aus gesundheitlichen Notfällen – wie der Ebola-Epidemie zwischen 2014-2016 in Westafrika – hat man gelernt, dass Schulschliessungen dazu führen, dass Millionen heranwachsender Mädchen der grossen Gefahr eines frühzeitigen Schulabbruchs ausgesetzt sind. Insbesondere jene Mädchen, die in Armut leben müssen, eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben, oder in ländlichen, abgelegenen Gegenden wohnen, sind besonders gefährdet. 

Die Schliessung von Schulen aufgrund der Corona-Pandemie stellt für Südsudan eine nationale Bildungskrise, und eine Katastrophe für die Bildung von Mädchen dar. Die Mädchen sind zunehmend geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, darunter Kinderheirat und Vergewaltigung. Die daraus resultierenden Schwangerschaften zwingen die Mädchen, ihre Schulausbildung frühzeitig abzubrechen. 

Sichere und gerechte Schulen für Mädchen im Südsudan

Investitionen in die Bildung von Mädchen tragen zu stabileren, widerstandsfähigeren Gesellschaften bei. Sie verändern Gemeinden, Länder und die ganze Welt. 

Frühe Eheschliessungen und Elternschaft kann verzögert werden. Mehr gebildete Mädchen führen zu mehr weiblichen Führungspersönlichkeiten und einem geringeren Bevölkerungswachstum. Ein Anstieg der Bildung von Mädchen und Frauen um einen Prozentpunkt erhöht das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,3 Prozentpunkte und steigert die jährlichen Wachstumsraten des BIP um 0,2 Prozentpunkte (Quelle: WTO).

© UNICEF/UN0430070/
15-jährige Martha Ajah

Um die Hindernisse für die Bildung von Mädchen im Südsudan zu beseitigen und die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Bildung zu fördern, sind deshalb Massnahmen auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene gefragt.

UNICEF Schweiz und Liechtenstein arbeitet mit der Regierung, Gemeinden und Partnern  zusammen, um ein gerechtes und inklusives Bildungssystem aufzubauen, das stabile und widerstandsfähige Gemeinschaften unterstützt.   Ziel des Projektes ist, 9 600 Mädchen, die in einigen der am stärksten marginalisierten Gemeinden leben, einen verbesserten Zugang zu qualitativ hochwertigen Lernmöglichkeiten, die geschlechtergerecht und kinderfreundlich sind, zu ermöglichen. 

Obwohl aufgrund der Schulschliessungen, der sozialen Distanzierungsrichtlinien, des Abzugs zahlreicher NGOs sowie des Beginns der Regenzeit und der möglichen Verzögerung der Lieferung von Bildungsgütern (aufgrund des eingeschränkten Flugverkehrs) viele Aktivitäten angepasst werden mussten, konnte der Bau von temporären Lernräumen und Latrinen in dem von UNICEF Schweiz und Liechtenstein unterstützten Projekt erfolgreich fortgesetzt werden. Auch die Bereitstellung von Bildungsangeboten für das Lehrpersonal und die Ausbildung freiwilliger Lehrer und Lehrerinnen war weiterhin möglich. Da die Gefahr besteht, dass viele Lehrpersonen aufgrund der mit Covid-19 verbundenen Schulschliessungen den Beruf wechseln, waren diese Projektaktivitäten umso wichtiger.