Die Kinder im Jemen und Nours Geschichte um Leben und Tod

Jürg Keim
Jürg Keim

Nach sechs Jahren Krieg steht der Jemen kurz vor dem Kollaps. Eine Hungersnot droht, 2,3 Millionen Kinder unter 5 Jahren leiden an akuter Mangelernährung. Davon waren anfangs Jahr 325 000 so schwer mangelernährt, dass ihr Zustand lebensbedrohlich ist. An dieser Stelle erzählen wir die Geschichte der kleinen Nour, deren Leben gerettet werden konnte.

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Nour Fatini wurde im Januar 2020 in einer Klinik in Sana'a im Jemen wegen schwer akuter Mangelernährung behandelt. ©UNICEF/UNI366586/Abaidi

Der Jemen erlebt derzeit die grösste humanitäre Krise der Welt. 24 von 30 Millionen Menschen sind humanitäre Hilfe angewiesen. Pro Woche sterben rund 1000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten, hätten also bei richtiger gesundheitlicher Versorgung überleben können. Besonders dramatisch ist indes der zunehmende Hunger, unter dem die grosse Mehrheit der jemenitischen Bevölkerung leidet. Laut einer aktuellen Analyse waren im Februar 2021 rund 2,3 Millionen Kinder unter fünf Jahren von akuter Mangelernährung betroffen, davon 400 000 schwer. Letztere kämpfen jeden Tag ums Überleben und müssen dringend behandelt werden. So wie die kleine Nour.  

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Mit 9 Monaten wog Nour weniger als 5 Kilogramm (Zum Vergleich: In der Schweiz wiegen gleichaltrige Mädchen im
Schnitt 8,4 Kilogramm.) ©UNICEF/UNI366598/Abaidi

Inmitten einer Slumsiedlung in der Hauptstatt Sana’a lebt die vierköpfige Familie von Nour Fatini in einem winzig kleinen Zimmer. Abgenutzte Matratzen, ein Gasbrenner zum Kochen, ihr weniges Hab und Gut ist in Säcke verstaut. Strom gibt es nicht, und Wasser muss die Familie aus öffentlichen Tanks auf der Strasse holen. Doch vor allem mangelt es an Essen. Nours Vater sucht täglich feste Arbeit, bisher vergeblich. In der Zwischenzeit sammelt er leere Plastikflaschen von der Strasse und verkauft sie. Das Einkommen reicht nicht aus, um die Grundbedürfnisse der Familie zu decken. Die Miete von aktuell rund 30 Schweizer Franken pro Monat kann sich Familie Fatini kaum leisten. Doch wenn sie ein Dach über dem Kopf will, muss sie dafür aufkommen.

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Die vierköpfige Familie von Nour lebt auf engstem Raum in einem Slum von Sana’a, der Hauptstadt Jemens.
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Schon als Nour Fatini geboren wurde, war sie schwach und ausgelaugt. Die ersten Monate bekam sie zu wenig Nahrung. Zwar stillte die Mutter ihr Baby, doch die Kleine war nie gesättigt, weil die Mutter nicht genug Milch produzierte. Das bald stark mangelernährte Baby wurde jedoch nicht zur Behandlung in ein Gesundheitszentrum gebracht. Der Familie fehlte hierfür nicht nur das Geld, sondern die Mutter erkannte auch die Symptome von Mangelernährung nicht. Nours Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Bis zu dem Tag als Ali Al-Raymi ins Leben von Familie Fatini trat.

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Sozialforscher Ali Al-Raymi untersucht als Case-Manager für das Projekt «IMSEA» benachteiligte Bevölkerungsgruppen. ©UNICEF/UNI366593/Abaidi


Der Sozialforscher Ali Al-Raymi untersucht als Case-Manager des von UNICEF mitfinanzierten Projekts «IMSEA» benachteiligte Bevölkerungsgruppen, wie etwa die Slumbewohner in Sana’a. Das Projekt «IMSEA», («Integriertes Modell der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unterstützung und Förderung») zielt mitunter darauf ab, bessere Bedingungen für die ärmsten und am meisten gefährdeten Kinder zu schaffen und diese Bevölkerungsgruppen sozial und wirtschaftlich zu unterstützen.  
Die Familie von Nour war eine der Familie, die für Erhebungen ausgewählt wurden. In der Folge besuchte Ali Al-Raymi die Familie zuhause. «Die Bedingungen, unter denen die Familie leben muss, sind schwierig. Die ganze Familie leidet unter Armut, Hunger und gesundheitlichen Problemen», beschreibt der Forscher die Situation. Nour war schwach und ihr Körper abgemagert. Ali Al-Raymi überwies das Baby an ein Gesundheitszentrum, wo es gegen schwer akute Mangelernährung behandelt wurde. Bei ihrem Eintritt in die Klinik wog Nour weniger als fünf Kilogramm – das ist viel zu wenig für ein Kind in diesem Alter. Die Helfer versorgten sie mit Spezialnahrung und Mikronährstoffe, die von UNICEF bereit gestellt wurden. «Wir haben sie wöchentlich untersucht», sagt ein Ernährungsspezialist im Gesundheitszentrum. «Nach vier Monaten war Nour ausser Gefahr.» Sie hatte die schwer akute Mangelernährung, die ihr beinahe das Leben gekostet hätte, besiegt.

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Nach vier Monaten Behandlung mit Spezialnahrungsergänzungsmitteln war Nour ausser Lebensgefahr.
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Nour begann, ihre ersten schwankenden Schritte zu machen und zu spielen. Ihre Mutter Suad Fatini: «Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man sieht, wie sich sein Kind von einer schweren Krankheit erholt. Früher war sie wegen ihres schlechten Gesundheitszustands ständig müde. Ich war so glücklich, als mein Baby anfing, zu watscheln und zu spielen.» Nour konnte durch einen Zufall geholfen werden. Ob sich ohne therapeutische Behandlung heute noch leben würde, bleibt fraglich. Ihr Schicksal steht für alle Kinder im Jemen, die an Hunger leiden. Wir dürfen sie nicht vergessen. Kinder wie Nour brauchen unsere Hilfe – mehr denn je.