Gewaltfreie Erziehung – «JA» zur gesetzlichen Verankerung im ZGB

Gewalt in der Erziehung verletzt die körperliche und seelische Integrität von Kindern. UNICEF Schweiz und Liechtenstein unterstützt den parlamentarischen Vorstoss vom 9. Dezember.

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Gewalt als erzieherisches Mittel, egal in welcher Form, kann schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern haben. Sie verletzt ihre psychische wie auch körperliche Integrität. Damit Kinder sich gesund entwickeln können, braucht es eine Gesetzgebung, die den vollumfänglichen Schutz von Kindern durch Erwachsene sicherstellt. UNICEF Schweiz und Liechtenstein befürwortet deshalb die gesetzliche Verankerung einer gewaltfreien Erziehung im Zivilgesetzbuch. Wir unterstützen zudem die Handlungsempfehlungen der eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ). Sie wird als Grundlage für die Abstimmung am 9. Dezember im Parlament beigezogen.

Die Bedeutung von Gewalt für die kindliche Entwicklung

Gewalteinwirkungen jeglicher Form stellen gleichzeitig einen Eingriff in das eigene Sicherheitsgefühl dar. Sie führen häufig zu massiven Folgeschäden sowohl für die körperliche als auch psychische Gesundheit eines Menschen. Für Kinder und Jugendliche ist das Erleben von Gewalt besonders bedrohlich und existenziell. Sie sind als vulnerable Mitglieder der Gesellschaft in ihrer Entwicklung vom Schutz und der Fürsorge durch Erwachsene abhängig. Die Folgen direkter Gewalt sind für das Kind umso gravierender, wenn sie sich innerhalb der eigenen Familie ereignet. 

Physische Gewaltanwendungen sowie psychische, in Form von psychologisch schädlichen Handlungen, seelischem Missbrauch, verbaler Beschimpfung sowie emotionaler Misshandlung in der Erziehung, verletzen die körperliche sowie geistige Integrität von Kindern. Diese Erfahrungen können schwere seelische Schäden und Folgeerkrankungen hervorrufen. Die Meta-Analyse von Gershoff und Grogan-Kaylor (2016) zeigte, dass elterliche Gewalteinwirkungen spezifische Risikofaktoren wie schulische Probleme, Eigentumsdelinquenz oder problematisches Suchtverhalten verstärken. Sie verschärft beim Kind das Risiko, unter geringen Selbstwertgefühlen zu leiden oder psychisch zu Erkrankungen. Es können sich Depressionen, Verhaltensprobleme, posttraumatische Belastungsstörungen sowie Angst- und Essstörungen entwickeln. In der Kindheit erlebte Gewalt erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit für Jugendgewalt und für Gewalt sowie chronischen psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter. Diese Tendenz zeigte sich bereits in den Ergebnissen des Berichtes der Initiative für globales Lernen aus dem Jahr 2017. Darin wird des Weiteren erklärt, dass Gewaltanwendung bei Kindern im Endeffekt nicht den gewünschten erzieherischen Erfolg mit sich bringt.*

Ein nationaler Forschungsbericht von 2017, erstellt von der Universität Freiburg zeigt, dass rund die Hälfte der befragten Eltern körperliche Gewalt in der Erziehung anwenden. Zwei Drittel der Befragten greifen auch zur psychischen Gewalt. Aus der Befragung geht zudem hervor, dass jedes elfte Kind zwischen null und sechs Jahren physische Gewalt erlebt. Insbesondere jüngere Kinder sind von elterlichen Körperstrafen betroffen. Dennoch sind es gerade die jüngeren Kinder, die erst relativ spät mit einer Kindesschutzinstitution in Kontakt treten. Das Durchschnittsalter bei einer Anmeldung in einer Institution liegt bei 10,4 Jahren. Obwohl es in der Schweiz viele Interventions- und Hilfsangebote gibt, erhalten viele der betroffenen Kinder und Eltern keine oder erst spät Unterstützung. Der Schutz ist zudem nicht überall gleichermassen geboten. Die regionalen Unterschiede in der Versorgung sind gross.* 

Gewaltfreie Erziehung aus kinderrechtlicher Perspektive

Die jahrelange, lückenhafte Formulierung des Schutzrechtes für Kinder in den Schweizerischen Gesetzbüchern hat eine Rechtsunsicherheit zur Folge. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtes geht nicht klar hervor, welche Erziehungsmethoden strafrechtlich verboten sind und welche nicht. Für das Gericht ist die körperliche Züchtigung kein physischer Gewaltakt, wenn sie ein gewisses von der Gesellschaft akzeptiertes Mass nicht überschreitet und in ihrer Tat nicht allzu häufig wiederholt wird.* Dies lässt viel Interpretationsspielraum zu. Während massive Misshandlungen als klares Verbot verstanden werden, sind Strafformen wie eine Ohrfeige oder ein Klaps immer noch Bestandteil traditioneller erzieherischer Massnahmen in der Schweiz. Sie werden als natürliche erzieherische Massregelung gesehen. Die Anwendung von Gewalt gegenüber Kindern in unserer Gesellschaft scheint entsprechend immer noch vertretbar zu sein. 
Mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1997 hat sich die Schweiz jedoch verpflichtet, wesentliche Standards zum Schutz des Kindes sicherzustellen. Es müssen alle geeigneten Gesetzgebungsmassnahmen getroffen werden, um das Kind vor jeglicher Form von Gewalt in der Erziehung, sei diese körperlicher oder psychischer Art, in Form von Misshandlungen oder Vernachlässigung, zu bewahren. Das Recht des Kindes auf Schutz ist somit gesetzlich verankert. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) sollen bis 2030 global und von allen UNO-Mitgliedstaaten, und somit auch von der Schweiz, erreicht werden. Darin wird als Ziel 16.2 unmissverständlich gefordert, jegliche Formen von Gewalt gegen das Kind zu beenden. Bereits im ersten Schweizer Staatenbericht von 2002 zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention hat der UN-Kinderrechtsausschuss der Schweiz empfohlen, jegliche Form von körperlicher Züchtigung grundsätzlich zu untersagen. Hingegen sollen positive, gewaltlose und partizipative Erziehungs- sowie Disziplinierungsformen gefördert werden. Die Empfehlung nach der gesetzlichen Verankerung wurde bis heute nicht umgesetzt. Auch der UN-Menschenrechtsrat betonte anlässlich seiner zweiten universellen periodischen Prüfung 2012 die Wichtigkeit, ein explizites Verbot der Körperstrafe einzuführen. Die Schweiz wurde von den Vereinten Nationen bereits zweimal gerügt, weil sie noch keine entsprechenden Schritte unternommen hat.

Eine gesetzliche Verankerung einer gewaltfreien Erziehung im Schweizerischen Zivilgesetzbuch ist ein entscheidender Schritt zum Schutz und zur Stärkung der Grundrechte des Schweizer Kindes. Ein Aufwachsen ohne psychische und physische Gewalteinwirkung schafft das notwendige Fundament, um die eigene Menschenwürde, Identität sowie auch die eigene physische und psychische Integrität zu wahren. Die gesetzliche Verankerung einer gewaltfreien Erziehung ist notwendig, um jedem Kind eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. 

Für die gesetzliche Verankerung einer gewaltfreien Erziehung

Es ist für eine gesunde Entwicklung des Kindes unabdingbar, Massnahmen zu ergreifen und entsprechende Präventions-, Unterstützungs- sowie Behandlungsprogramme für Kinder und Eltern sicherzustellen, welche für alle gleichermassen zugänglich sind. Dazu gehört ein gesetzlich verankertes Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. UNICEF Schweiz und Liechtenstein setzt sich für rechtliche Rahmenbedingungen ein, die garantieren, dass die psychische wie auch körperliche Integrität von Kindern geschützt und bewahrt wird. Deshalb befürworten wir den parlamentarischen Vorstoss vom 9. Dezember, welcher eine gesetzliche Verankerung einer gewaltfreien Erziehung im ZGB fordert und unterstützen die Handlungsempfehlungen der EKKJ.

Informationen zum Positionspapier der EKKJ und ihren Handlungsempfehlungen: Das Recht auf eine Erziehung ohne Gewalt