Gazastreifen: «Das sollte uns allen nachts den Schlaf rauben»

Statement von UNICEF-Kommunikationsspezialistin Tess Ingram nach ihrem siebentägigen Aufenthalt im Gazastreifen.

Tess Ingram Krankenhaus Gazastreifen
12. Januar 2024: UNICEF-Sprecherin Tess Ingram im Emirati Krankenhaus in Rafah im Gaza-Streifen.

«In den 105 Tagen seit Beginn der Eskalation im Gazastreifen sind fast 20 000 Babys in den Krieg hineingeboren worden. Das ist ein Baby alle zehn Minuten, das in diesem grausamen Krieg geboren wird.

Letzte Woche um diese Zeit war ich mit Müttern im Emirati Krankenhaus in Rafah im Gaza-Streifen.

Der Tag dort war eine willkommene Erinnerung an die Kraft des Lebens inmitten des Kriegschaos. Aber es war auch der herzzerreissendste der sieben Tage, die ich in Gaza verbrachte.

Ich möchte Ihnen vier kurze Beispiele nennen, die für die Erfahrungen Tausender Frauen sprechen.

Iman - rannte im achten Monat schwanger und voller Angst durch die Strassen von Gaza-Stadt, als diese angegriffen wurde. Jetzt, 46 Tage nach einem Kaiserschnitt, liegt sie mit einer schweren Infektion im Krankenhaus. Sie ist zu schwach, um ihr Baby Ali zu halten.

Mashael - ihr Haus im mittleren Bereich wurde getroffen, ihr Mann mehrere Tage lang unter den Trümmern begraben und dann hörte ihr Baby auf, sich in ihr zu bewegen. Sie sagt, dass sie jetzt, etwa einen Monat später, sicher ist, dass das Baby tot ist. Sie wartet immer noch auf medizinische Hilfe. Sie sagt mir, es sei das Beste, ‘wenn ein Baby nicht in diesen Albtraum hineingeboren wird’.

Amal – wurde während eines Angriffs unter Trümmern begraben, als sie im sechsten Monat schwanger war. Das Baby hat sich eine Woche lang nicht bewegt. Glücklicherweise kam Baby Sama am Tag vor unserem Treffen gesund zur Welt. Aber Amal ist verletzt und krank und bereitet sich darauf vor, Sama nach Hause zu bringen... in eine notdürftige Unterkunft auf den Strassen von Rafah.

Und dann noch Krankenschwester Webda – sie hat in den letzten acht Wochen bei sechs toten Frauen einen Notkaiserschnitt durchgeführt. Sie erzählt mir: ‘Es gibt auch mehr Fehlgeburten wegen der ungesunden Luft und des Rauchs durch die Bombardierung. Das ist schon öfter passiert, als ich zählen kann.’

Die Situation der schwangeren Frauen und der Neugeborenen im Gazastreifen ist unfassbar und erfordert verstärkte und sofortige Massnahmen.

Die ohnehin schon prekäre Situation der Säuglings- und Müttersterblichkeit hat sich mit dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems weiter verschlechtert.

Die Mütter stehen vor unvorstellbaren Herausforderungen, um vor, während und nach der Geburt Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, Ernährung und Schutz zu bekommen.

Das Emirati Krankenhaus in Rafah versorgt jetzt die grosse Mehrheit der schwangeren Frauen im Gazastreifen.

Aufgrund der Überbelegung und der begrenzten Ressourcen ist das Personal gezwungen, Mütter innerhalb von drei Stunden nach einem Kaiserschnitt zu entlassen.

Unter diesen Bedingungen sind die Mütter dem Risiko von Fehlgeburten, Totgeburten, Frühgeburten, Müttersterblichkeit und emotionalen Traumata ausgesetzt.

Das Kriegstrauma wirkt sich auch direkt auf die Neugeborenen aus und führt zu einer höheren Rate an Mangelernährung, Entwicklungsproblemen und anderen gesundheitlichen Komplikationen.

Und schwangere und stillende Frauen und Kinder leben unter unmenschlichen Bedingungen: notdürftige Unterkünfte, schlechte Ernährung und unsicheres Wasser. Dadurch sind etwa 135 000 Kinder unter zwei Jahren von schwerer Mangelernährung bedroht.

Wir dürfen nicht vergessen, dass dies in der südlichen Hälfte des Gazastreifens geschieht. Trotz unermüdlicher Bemühungen ist es UNICEF bisher nicht gelungen, in den Norden vorzudringen, wo die Situation unglaublich viel schlimmer ist.

Zu sehen, wie neugeborene Babys leiden und ihre Mütter verbluten, sollte uns allen nachts den Schlaf rauben. Die Tatsache, dass zwei sehr junge israelische Kinder, die am 7. Oktober entführt wurden, noch immer nicht freigelassen wurden, sollte uns ebenfalls wachhalten.

In der Zeit, die ich gebraucht habe, um dies zu schreiben, wurde wahrscheinlich ein weiteres Baby geboren. Aber in welche Zukunft? Wird es, wie Amal, mit seiner Mutter in eine notdürftige Unterkunft zurückkehren? In ständiger Sorge, dass das Baby vom Wasser krank wird? Besorgt darüber, was das Baby essen wird?

Mutter zu werden sollte ein Anlass zum Feiern sein. In Gaza ist es ein weiteres Kind, das in der Hölle geboren wird.

Die Menschheit darf nicht länger zulassen, dass diese verzerrte Version von Normalität fortbesteht. Mütter und Neugeborene brauchen einen humanitären Waffenstillstand.»