Afghanistan droht nicht nur eine Hungerkatastrophe

Saskia Kobelt
Saskia Kobelt

Vor über 100 Tagen hielt die Welt den Atem an. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan am 15. August 2021 hat die ganze Welt mitverfolgt. Seither spitzt sich die eh schon schwierige Situation für die 15,9 Millionen Kinder immer weiter zu. Jetzt, da der Winter naht und nächtliche Temperaturen von bis zu -25⁰C mit sich bringt, sind zusätzliche Massnahmen erforderlich, um zu verhindern, dass aus einer Krise eine Katastrophe wird. Wie sieht die Lage in Afghanistan aktuell aus? Und wie geht es den Mädchen und Buben? Auf diese Fragen möchten wir im folgenden Beitrag eingehen.

©UNICEF/UNI303867/Bidel
Das Foto stammt aus dem Jahr 2020: Am 5. Februar sitzen Fardin, 5, (Mitte), Sarah, 2, (links), und Bibizat, 12, in ihrem Haus in einem Lager für Binnenvertriebene am Rande der westlichen Stadt Herat. Die Kinder und ihr Bruder, der sechs Monate alte Samiullah, leiden an Husten. Die Familie verbrennt oft Gummi, Plastik und jedes andere Material, das sie finden kann, um ihr Haus während der kalten Winternächte und -tage warm zu halten.

In Afghanistan hat die Dürre einen grossen Teil der Ernten zerstört, die Preise für Grundnahrungsmittel sind explodiert. Die öffentlichen Dienste sind zusammengebrochen, und die Wirtschaft liegt am Boden. Mittlerweile sind 95 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Die Krise hat Millionen Kinder in Lebensgefahr gebracht: So sind rund zehn Millionen afghanische Mädchen und Buben auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind ungefähr sechs Mal so viel wie in der Schweiz Kinder leben. In diesem Winter werden Millionen von Afghanen und Afghaninnen gezwungen sein, zwischen Flucht und Hungern wählen zu müssen. Der Wettlauf gegen die Zeit hat längst begonnen. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist derzeit so fragil, dass nur wenigen Menschen Zugang zum Land gewährt wird. Unser Kollege Salam Al-Janabi, Sprecher von UNICEF Afghanistan, hat uns deshalb in einem Video erzählt, was ihn am meisten beschäftigt und was ihm Hoffnung macht: 

Weder sauberes Wasser noch Nahrung

In Afghanistan herrscht derzeit eine derart dramatische Wasser- und Lebensmittelknappheit, dass in 25 der 34 Provinzen der Dürre-Notstand ausgerufen wurde. Es ist bereits die zweite Dürre innerhalb von vier Jahren. Mit desaströsen Folgen für die Bevölkerung: Ernteeinbussen (v.a. Getreide, Weizen, Mais) stürzen die Menschen in Afghanistan ins Elend. Familien können nicht mehr von ihren Erzeugnissen leben und gleichzeitig schiessen die Lebensmittelpreise aufgrund der Knappheit in die Höhe. Ein Kreislauf aus Hunger und Armut entsteht. Ohne Hilfe droht Afghanistan eine Hungerkatastrophe. Aufgrund des imminenten Wassermangels steigt auch die Gefahr von Krankheiten. Gleichzeitig hat ein Viertel des Landes keinen Zugang zu einer Trinkwasserversorgung und nur jeder zweite Mensch in Afghanistan hat einen Zugang zu sanitären Einrichtungen. Bereits jetzt leiden vier von fünf Kindern unter 5 Jahren in den Dürregebieten an lebensbedrohlichen Durchfallerkrankungen.

Weil es im Vertriebenenlager in Herat nur die wenigsten Unterkünfte einen Wasseranschluss gibt, holen diese Kinder täglich mit Kanistern Trinkwasser für ihre Familien.
Weil es im Vertriebenenlager in Herat nur die wenigsten Unterkünfte einen Wasseranschluss gibt, holen diese Kinder täglich mit Kanistern Trinkwasser für ihre Familien.

Trockenes Brot und Tee

Afghanistan gehörte anfangs 2021 zu den sechs ärmsten Ländern der Welt. Weil die Wirtschaft am Boden liegt, gibt es keine Arbeit. In einem Land, in dem 40 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft arbeiten, wiegt dies schwer: Der Druck für die Familien ist enorm. Auch Familien der gut ausgebildeten Mittelschicht wissen nicht mehr, woher sie die nächste Mahlzeit herbekommen. Denn über 70 Prozent der öffentlichen Ausgaben für Löhne sind international finanziert worden. Seit August dieses Jahres sind diese Mittel weggefallen.

©UNICEF/UN0512115/Bidel
Die 52-jährige Zahra isst mit ihrer Tochter in der Binnenflüchtlingssiedlung Shadiaye in der Stadt Herat eine Mahlzeit aus altem, mit Wasser aufgeweichten Brot. Zahra, die ihren Mann während des Konflikts verloren hat, hat drei Jungen und ein Mädchen. «Ich habe Angst, nach Hause zu gehen, seit ich vor einem Jahr nach Herat gezogen bin», sagt Zahra. «In den letzten sechs Monaten konnte ich mir kein Essen für meine Kinder leisten, ich konnte ihnen nur trockenes Brot geben.» (August 2021)

«14 Millionen Menschen in Afghanistan haben nur eine Mahlzeit am Tag oder vielleicht zwei. Und diese Mahlzeit besteht aus trockenem, altem Brot, das sie in Tee tunken.»

Salam Al-Janabi, Sprecher von UNICEF Afghanistan

Die humanitäre Krise ist für Kinder lebensbedrohlich

Wir von UNICEF befürchten, dass ohne Hilfe bis Ende dieses Jahres mindestens 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren von akuter Mangelernährung bedroht und mindestens eine Million von ihnen lebensbedrohlich mangelernährt sein werden. Dabei steht der eisige afghanische Winter mit durchschnittlichen Temperaturen von -7 Grad Celsius erst noch bevor. Diese Kinder können nur überleben, wenn ihnen sofort medizinisch geholfen wird.

©UNICEF/UN0530474/Bidel
In dem von UNICEF unterstützten Zentrum für therapeutische Ernährung in Herat erhält der 15 Monate alte Javid therapeutische Nahrung und medizinische Versorgung.
©UNICEF/UN0530490/Bidel
Die eineinhalb Monate alte Zakia, die an schwerer akuter Unterernährung mit Komplikationen leidet, wird von ihrer Mutter mit therapeutischer Milch über eine nasogastrale Sonde ernährt, da sie zu krank ist, um zu stillen.

Das eigene Kind verheiraten

In vielen Teilen Afghanistans sind die Menschen mittlerweile derart verzweifelt, dass sie zu extremen Mitteln greifen. Nur um etwas Essen auf den Tisch zu bekommen. Manche verheiraten ihre Töchter im jungen Alter, damit sie eine Person weniger ernähren müssen.
Berichten zufolge sind Kinderheiraten in Afghanistan auf dem Vormarsch. So hat UNICEF etwa erfahren, dass Eltern ihre erst 20 Tage alten Töchter gegen eine Mitgift für eine spätere Heirat anbieten.

Kinderehen haben oft lebenslange Auswirkungen für die Mädchen. Viele schliessen die Schule nicht ab. Sie haben ein höheres Risiko, häuslicher Gewalt, Diskriminierung und Missbrauch ausgesetzt zu sein, was häufig auch ihre mentale Gesundheit beeinträchtigt.
Schon zwischen 2018 und 2019 registrierte UNICEF in den Provinzen Herat 183 Kinderehen und 10 Fälle von Kinderhandel. Die Kinder waren zwischen 6 Monaten und 17 Jahren alt.

 

«Ich wünschte, ich wäre mein Bruder, denn dann müsste ich nicht ständig zittern, wenn es an der Tür klopft. Ich habe Panik, dass dort jemand steht, der um meine Hand anhält. Wenn ich verheiratet werde, bevor ich die zwölfte Klasse geschafft habe, werden sich meine Hoffnungen für meine Zukunft in Luft auflösen.»

Rubaba, 18 Jahre alt

Schulbildung - aber nicht für alle

Die Bildungssituation für Mädchen und Buben in Afghanistan ist gravierend. Schon vor der Machtübernahme der Taliban waren 4,2 Millionen Kinder – darunter 60 Prozent Mädchen – nicht in der Schule, oftmals in schwer zugänglichen Gebieten. Vielen Mädchen blieb dadurch eine gute Ausbildung verwehrt. In den letzten zehn Monaten waren auch die Schulen wegen Covid-19 ganz oder teilweise geschlossen, wovon mehr als 9,5 Millionen Schüler und Schülerinnen in offiziellen Schulen und 500 000 in kommunalen Bildungseinrichtungen betroffen waren. Und in der ersten Hälfte dieses Jahres waren bereits mehr als 920 Schulen aus Sicherheitsgründen geschlossen worden.

Am 24. August 2021 wiesen die Behörden die Schulen an, die Klassenstufen eins bis sechs sowohl für Mädchen als auch für Buben in ausgewählten Provinzen wieder zu öffnen. Und mittlerweile dürfen in mindestens sechs Provinzen auch ältere Mädchen zur Schule gehen. In den östlichen Regionen des Landes erhielten zudem Gesundheitshelferinnen und Lehrerinnen die Ankündigung, dass sie die Arbeit wieder aufnehmen sollten.
 

©UNICEF/UN0518461/Bidel
In der Mädchenschule Goharshad Begum in der Stadt Herat haben die Schülerinnen der Klassen 1 bis 6 wieder mit dem Unterricht begonnen. An dieser Schule lernen bei voller Auslastung der Klassen 1 bis 12 rund 4 000 Mädchen. Diesen Schülerinnen steht eine ungewisse Zukunft bevor.

Medizinische Hilfe ist dringend nötig

Aufgrund der Krise mussten zwischenzeitlich 2 000 Gesundheitszentren in Afghanistan schliessen. Als Folge konnten tausende Familien und Kinder weder eine Vorsorgeuntersuchung wahrnehmen noch medizinisch behandelt werden. Auch wichtige Routineimpfungen wie jene gegen Masern oder der wilden Polio blieben weg. Afghanistan zählt neben Pakistan zu den letzten Ländern der Welt, wo der wilde Poliovirus noch endemisch ist. Nun fehlt 46 Prozent der Kinder zwischen 12 und 23 Monaten dieser wichtige Schutz. Masernausbrüche haben sich in den ersten acht Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr bereits vervierfacht. Die Krankheit breitet sich unter Kindern rasant aus. Mittlerweile werden Masernausbrüche in drei Vierteln des Landes verzeichnet. Um dem entgegen zu wirken, setzt UNICEF auf mobile Kliniken, in welchen ausgebildete Ärztinnen und Ärzte den verzweifelten Familien helfen können. Mit den derzeit 57 mobilen Teams erreichen wir die betroffene Bevölkerung auch in den entlegensten Gebieten. Die Arbeit dieser mutigen Frauen und Männer ist ein Beispiel dafür, was wir aktiv tun können, um zu helfen.
 

©UNICEF/UN0530714/Bidel
Eine Mutter und ihre Kinder warten in einer von UNICEF und dem Welternährungsprogramm (WFP) unterstützten Klinik des Mobilen Gesundheitsteams in der Binnenflüchtlingssiedlung Sabz-e-Shark in Herat darauf, dass sie an der Reihe sind, eine Gesundheits- und Ernährungsuntersuchung durchzuführen.
©UNICEF/UN0511136/Bidel
Die zweijährige Fatima wartet darauf, dass sie im Gesundheitszentrum Bab-e-Bargh an der Reihe ist, wo in der größten Klinik der Stadt Herat mit Unterstützung von UNICEF weiterhin Impfungen, Gesundheits- und Ernährungsberatung sowie vor- und nachgeburtliche Betreuung angeboten werden.

«Wenn ich durch die Strassen gehe und Kinder lernen höre, Kinder lachen höre oder ein Kind weint, weil es gerade geimpft wird, dann bedeutet das Hoffnung für mich. Die Situation kann für Eltern in Afghanistan gerade sehr dunkel sein. Doch solange wir von UNICEF Hoffnung bringen können – Hoffnung für Kinder, für Mütter – denke ich wir sind hier, um genau das zu tun.»

Salam Al-Janabi, Sprecher von UNICEF Afghanistan

Hoffnung schenken

UNICEF hat jetzt Zugang zu Gebieten, welche zuvor versperrt waren. Das ist gut, weil wir dadurch noch mehr hilfsbedürftige Familien und Kinder erreichen können. Doch was wir nicht von der Hand weisen können ist, dass das Leid der Menschen von Tag zu Tag grösser wird. Wir müssen deshalb die humanitäre Hilfe im ganzen Land dringend ausweiten. Gerade jetzt, wo der eisige Winter vor der Tür steht. Unsere UNICEF-Büros in ganz Afghanistan operieren zurzeit am Limit. Wir werden deshalb noch mehr Mitarbeitende benötigen, die uns dabei unterstützen, auf die sich anbahnende humanitäre Katastrophe zu antworten. 

UNICEF setzt alles daran, den Mädchen und Buben in dieser schwierigen Zeit zu helfen. UNICEF ist und bleibt vor Ort und setzt sich unermüdlich für die notleidende Bevölkerung ein. Die Familien und Kinder brauchen unsere Hilfe noch dringender denn je. Wir dürfen sie jetzt nicht allein lassen. 

Wie kann ich den Kindern in Afghanistan helfen? 

Mit einer Spende für dringende Hilfsgüter können Sie unsere Arbeit in Afghanistan unterstützen: 

Haben Sie weitere Fragen zur humanitären Arbeit von UNICEF? Oder möchten Sie gerne mehr über ein bestimmtes Thema erfahren? Dann freuen wir uns über Ihre Kontaktaufnahme [email protected].
 

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